Inzwischen haben die meisten von uns ihre ersten Gespräche mit ChatGPT geführt. Und wohl mindestens genauso viele über ChatGPT. Und? Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? Mir schon. Und zwar dass alle, wirklich sämtliche meiner Gesprächspartner*innen ChatGPT mit einem männlichen Pronomen referenzieren. Könnte das etwa was mit unseren Vorstellungen von Geschlechterrollen zu tun haben?
Die Vermenschlichung der KI wird bereits breit diskutiert. Allein dadurch, dass wir den Bot in unseren Chats mit „Du“ adressieren, entsteht irgendwie der Eindruck, wir würden mit jemandem quatschen. Und wenn wir hinterher jemandem erzählen, ChatGPT hätte sich geirrt oder eine Antwort einfach erfunden, unterstellen wir dem System, es sei zu kognitiven und kreativen Eigenleistungen in der Lage. Aber was mich an Sätzen wie „Die Quelle hat er sich einfach ausgedacht“ am meisten stört, ist das „er“.
Ich möchte die These wagen, dass die Wahl des maskulinen Pronomens nicht in der Grammatik begründet liegt und sich auch nicht rein zufällig so eingeschlichen hat. Ja, es heißt der Chatbot. Ebenso sehr ist ChatGPT aber auch die KI und das System. Trotzdem habe ich noch niemanden sagen hören: „Den Text hat sie echt gelungen formuliert.“ Stattdessen bezeichnen die Menschen ChatGPT reflex- und standardmäßig als Mann. Und ich bin mir sicher, dass dafür die Rollenbilder und Stereotype verantwortlich sind, die tief und fest verankert in uns schlummern.
Eine universalgelehrte Entität, die uns bereitwillig die Welt erklärt und auf wirklich jede Frage eine Antwort gibt (auch wenn sie die richtige womöglich gar nicht weiß) – da entstehen doch vor jedem inneren Auge Bilder von weißen Rauschebärten, großväterlich schiefgelegten Köpfen und dozierenden Zeigefingern, die im Takt zu Worten in sonorem Bass schwingen. Allwissende Antwortgeber, die mit Zahlen genauso elegant jonglieren wie mit Worten und jedes Rätsel für uns lösen. Das ist in den meisten Köpfen einfach nicht weiblich assoziiert. Gut, ich lege die Genderklischee-Keulen an der Stelle beiseite. Aber tatsächlich sind die Wissensautoritäten, die in die Geschichte als bedeutsam eingeschrieben wurden, allesamt männlich. Aristoteles, Humboldt, Newton, da Vinci, Goethe, Leibniz. Wer sich einreihen darf, darüber lässt sich streiten. Frauen finden sich im Wikipedia-Eintrag zu „Universalgelehrte“ allerdings nicht.
Und nun wird eben auch das universalgelehrte System männlich gedacht. Na und? ChatGPT sagt dazu: „Der Gebrauch des maskulinen Pronomens in Verbindung mit ChatGPT verstärkt nicht nur Geschlechtsstereotype, sondern sendet auch die Botschaft aus, dass technologische Entitäten standardmäßig männlich sind. Dies kann zur Unterrepräsentation von Frauen und anderen Geschlechtern in der Technologiebranche beitragen und bestehende Geschlechtsungleichheiten weiter verfestigen.“ Da gebe ich ihm recht.
Habt ihr es bemerkt? Achtet im nächsten Gespräch über ChatGPT mal drauf, ob euer Gegenüber auch von „ihm“ erzählt. Und wie die Reaktion aussieht, wenn ihr stattdessen von „ihr“ sprecht. Das ist spannend, versprochen.
Spannende Überlegung! Als Alternativerklärung würde ich einwerfen, dass männlich in der deutschen Sprache (und Kultur) noch immer als der Standard angesehen wird – „Es gibt zwei Geschlechter: Männlich und Politisch.“ Personen sind quasi männlich bis zum Beweis des Gegenteils. Interessant finde ich in der Hinsicht, dass andere Chatbots ja bereits als explizit weiblich gegendert wurden – Siri, Alexa und Cortana lassen ja keinen Zweifel an ihrer Geschlechtsidentität und gehen voll ins „Hilfreiche dienstbare Assistentin“-Klischee. Wisst ihr, ob ChatGPT im Englischen ein Geschlecht zugeordnet wird?
Hi Andreas, sehr spannende Gedanken! Vielen Dank für den Input.
Bezüglich deiner Frage zu einem Geschlecht in der englischen Sprache: Ich hatte dazu auch kurz recherchiert und folgenden Artikel gefunden: https://arxiv.org/abs/2305.12564 (gut zusammengefasst hier: https://www.linkedin.com/pulse/cultural-imprints-code-how-society-shapes-chatgpts-gender-baldriga-v8pjc/?trk=article-ssr-frontend-pulse_more-articles_related-content-card)